Eine goldene Möglichkeit

"Du weißt, wie es läuft, lass dich wieder blicken, wenn du die Zeche zahlen kannst!"
Mit dem Zuschlagen der schweren Holztür verklang auch das hämische Lachen aus dem Inneren des "Seeligen Krug". Wenigstens hatte man dieses Mal darauf verzichtet ihn, zur allgemeinen Belustigung der gesamten Straße, hochkant rauszuwerfen.
Schnaubend zog Bren den Kragen seines Mantels hoch, während er sich unter das Volk auf der Straße mischte. Protest war eh zwecklos und je schneller er nach Hause kam, desto besser. Noch hielt das wohlige Gefühl vom Bier an.
Hast du kein Geld mehr fürs Hurenhaus, geh in die Schenke. Hast du kein Geld mehr für die Schenke, lass Anschreiben. Lassen sie dich nicht mehr anschreiben, geh in die Gasse.
Wie immer nach einem Rauswurf, hallte die alte Weisheit seines Vaters in seinen Gedanken wieder. Brens Meinung nach hätte der alte Säufer es vielleicht mit etwas mehr Arbeit versuchen sollen, oder aber so Schlau zu sein, in mehreren Schenken anschreiben zu lassen. Er lächelte zufrieden.
Auch wenn er durch zwei Bezirke der Stadt musste, es würde sich nicht so schnell herumsprechen woher er kam und, vor allem, wo er noch Schulden besaß. Sein Lächeln wurde siegessicher, trotz des kalten Windes, den die Nacht durch die Straße trieb.
Zudem war der Rückweg durch Hohenheim sehr angenehm, war es doch einer der wohlhabenderen Stadtteile im Schatten der ewigen Zitadelle. Die Menschen hier waren ruhiger, in sich gekehrter und suchten keinen Ärger. An den Eingängen der Gassen standen richtige Stadtwachen, die wirklich verhinderten dass jemand sie betrat. Alles war auch etwas sauberer.
Außerdem gab es noch die fahrenden Händler, die nachts durch die Straße zogen um Waren zu verkaufen. Meist an die Wachen, aber auch an Gestalten wie Bren.
In einiger Entfernung sah Bren einen von ihnen. Die vertraute Gestalt eines gedrungenen, kleinen, bärtigen Mannes der hinter seinem Karren stand, um Dörrfleisch und Brot feilzubieten. Schon oft ein Garant für eine gute Wegzehrung. Breit lächelnd hielt er auf ihn zu.
"He, guter Mann."
Brummend richtete der Händler seinen Blick auf Bren. Bevor er etwas entgegnen konnte schnippte dieser  ihm eine Münze zu.
"Einmal das Beste", verlangte Bren.
Ohne eine Regung sah der Händler die aufgefangene Münze an, langte in ein tiefer gelegenes Fach seines Karrens und zog ein Stück Fleisch heraus.
"Hier, bitte der Herr."
Trotz des offenkundigen Tonfalls, fühlte sich Bren wirklich geehrt. Dankend nahm er seinen Kauf entgegen, um dann den Weg fortzusetzen. Der Händler warf das Kupferstück achtlos in seinen Geldbeutel, während er nur den Kopf schüttelte.
Im Gedanken lobte sich Bren selbst dafür, immer ein Kupferstück sorgfältig zu verstecken, um sich so noch etwas zu gönnen. Wenn man überall Schulden besaß, sollte man sparsam sein mit dem was man zurückzahlte.
Essend setzte er seinen Weg durch Hohenheim fort. Vorbei an geschlossenen Geschäften, belebten Gasthäusern und schönen Häuserfasaden. Je näher er dem nächsten Bezirk kam, desto schmuckloser wurde alles und außer den Wachen, die mit leuchtenden Laternen an den Gasseneingängen standen, war bald niemand mehr auf der Straße.
An der Grenze zwischen Hohenheim und den Hammerhallen hielt er kurz inne. Das Bier trieb. Das Geräusch fließenden Wassers tat sein Übriges dazu. Erleichtert ging er über die breite Brücke, die über den rauschenden Kanal führte. Kurz blickte er zur Seite, hinab zu den dutzenden, um die Wetter knarzenden, Wasserrädern. Einige trieben Mühlräder an, andere schöpften Wasser ab, um es in hängende Rinnen aus Holz zu befördern, die sich irgendwo in den Hammerhallen verloren. Von manchen war das Wissen um Sinn und Zweck verloren gegangen.
Der Kanal fand sein Ende am Fuß der Ewigen Zitadelle, wo er wie ein Wasserfall hinab in die tiefer gelegenen Katakomben fiel. Er schluckte, bei dem Gedanken an die Bewohner Katakombensee und der Kanäle unter der Stadt.
Als Bren seinen Weg fortsetzte, betrachtet er die endlosen Hütten und Hallen, in denen unzählige Handwerker tagsüber arbeiteten. Sobald die Sonne aufging, war es auch für ihn wieder an der Zeit, in einer der kleinen, stickigen Bauten zu arbeiten, um gemahlenes Korn in Säcke abzufüllen, die dann geschleppt werden durften.
"Harte, ehrliche Arbeit. Schwachsinn."
Den Spruch seines Meisters hörte er beinah täglich, als sollte er dankbar dafür sein, dieser Schinderei nachzugehen. Frustriert von der Aussicht des Kommenden wollte Bren grade sein letztes Stück Dörrfleisch hinunterschlingen, als sich die Perspektive seiner Welt veränderte. Bevor er verstand, dass er auf etwas ausgerutscht war, befand er sich in einem kurzen, freien Fall, der auf dem harten Pflasterstein endete. Dumpfer Schmerz trieb ihm die Luft aus der Lunge, keuchend rang er nach Luft, kurz davor sich zu Übergeben. Es dauerte einige Momente, bis Bren wieder Herr seines Atems war. Lauthals verfluchte er jede Art von Nutzvieh, die tagsüber die Straßen nutzte.
Sein Hintern schmerzte höllisch und auch der Rücken tat weh, ansonsten war Nichts passiert, außer dass das Dörrfleisch weg war. Beim Aufstehen betrachtete er den Boden. Etwas seimiges, Glitschiges überzog die dicken Steine. Bren wollte nicht wissen was es war, oder von welchem Tier es kam. Angewidert verzog er das Gesicht, als er etwas glänzen sah. Er blinzelte kurz. Etwas in dem Dreck reflektierte das Mondlicht.
Neugierig ging er in die Knie, um das Ding herauszuziehen. Dickflüssiger Seim tropfte von seinen Fingern und dem Gegenstand. In Brens Magen rumorte es bei diesem Anblick.
"Ein Schlüssel? Wie kommst den du dahin?"
Verwundert schüttelte er vorsichtig etwas von dem Dreck ab. Der Glanz nahm zu. Beim Weitergehen behielt er seinen Fund in Hand, um den Mantel nicht mit wer weiß zu ruinieren.
Kaum war die Holztür ins Schloss gefallen und die Öllampe entfacht, eilte Bren durch seine kleine Behausung, um den Schlüssel, und seine Hand, in einer kleinen Wasserschale zu waschen. Seinen Augen weiteten sich.
"Ich glaub es nicht", hauchte er.
Im Schein der Lampe glänzte ihn ein goldener Schlüssel an. Er lachte leise. Scheinbar hatte ein reicher Händler nicht aufgepasst. Seinem Gefühl nach wog der Schlüssel mindestens so viel wie eine Goldmünze. Behutsam kratzte Bren mit einem seiner Fingernägel an ihm. Es löste sich nichts. Nach einem tiefen Atemzug kratzt er mit Schlüssel leicht an der Wand. Es kam kein Eisen zum Vorschein. Scheinbar war es pures Gold.
Bren hielt sich die Hände vor das Gesicht. Wenn dem wirklich so war, entsprach das beim Versetzen mindestens dem Gehalt eines Monats. Schnell versteckte er den Schlüssel in einem Regal, bevor er das Licht löschte um Schlafen zu gehen. Seine Träume waren erfüllt von den Möglichkeiten, die sich grade boten.

Der zweite Glockenschlag holte Bren aus seinen Träumen. Wie jeden Morgen. Stöhnend hievte er sich aus seinem einfachen Bett, um den all morgendlichen Ritus zu vollführen. Kühles Wasser, das von seinen kurzen, dunkelblonden Haaren hinab in den Nacken lief,  holte ihn wieder ins Leben zurück. Er seufzte.
"Irgendwann hör ich mit dem Mist auf, um nicht jeden Morgen so aufzustehen." Ein sich ewig wiederholendes Mantra.
Um nicht zu spät zu kommen, zog er sich schnell an und griff nach dem Stück Brot, das unterwegs sein Frühstück sein würde. Kurz bevor er es aufhob, hielt er inne. Langsam wanderte seine Hand zu der Schublade unter dem Brot, um diese aufzuziehen. In ihr lag der goldene Schlüssel. Es war kein Traum gewesen.
Schnell schloss er sie wieder, nahm sein Mahl und machte sich auf. Auf dem Weg nahm er die anderen Menschen kaum war. Seine Gedanken drehten sich darum, wie er den Schlüssel am besten versetzen konnte. Den Weg zum Untermarkt kannte er nicht, abgesehen davon, dass er dem Gesindel da nicht traute, aber er kannte eine Schmiedelehrling. Der könnte den Schlüssel einschmelzen. Den Klumpen könnte er dann verkaufen. Sicher würde der andere seinen Anteil verlangen, aber es würde genug überbleiben. Bren war sich absolut sicher.
Mit einem zufriedenen Lächeln erreichte Bren Garkus` Mühlhaus. Von drinnen konnte man schon das Ächzen der Mahlsteine hören, begleitet von den Stimmen der Gehilfen und Meister Garkus dröhnenden Anweisungen.
Niemand schenkte ihm Beachtung, als er seine verdreckte Schürze überwarf und sich ans Werk machte. Vorsichtig rieb er Mehl vom Stein, siebte es und füllte seinen Scheffel weiter und weiter, um ihn am Ende in einen der Säcke zu schütten. Die Luft war warum und stickig, aber es roch dafür nach frischem Mehl.
Stunde um Stunde verging, bis die Sonne langsam rötliches Licht warf, das die Schatten länger werden ließ.
"Letzter Scheffel Jungs!", rief Meister Garkus.
Ein Seufzer ging durch das Mühlhaus. Als hätte man einen Hebel umgelegt, begannen alle entspannt zu reden.
"Bren, was ist eigentlich heute los mit dir?"
"Was soll los sein?" Fragend blickte Bren den anderen Gehilfen an.
"Du beschwerst dich nicht, stöhnst nicht rum. Verdammt, du lächelst sogar", sein Gegenüber begann zu grinsen", war dir gestern etwa ein Mädchen gefällig?"
"Wenn, dann war es eine Hure,  und zwar die billigste", warf eine andere Stimme ein.
Bren verkrampfte sich, seine Hände wurden zu Fäusten.
"Das war nicht nett Gaarder!".
"Scheiß drauf. Bren hat heute mal halbwegs so viel gearbeitet, wie alle anderen. Wenn es hilft." Gaarder legte seinen Sack mit Mehl ab, als wären es Federn. "Besuch Sie wieder Bren, wirklich."
Er blieb still. Gaarder schnaubte verächtlich, dann ging er.
"Ja, er ist..."
"Ein Arschloch", beendete Bren den Satz des anderen. Nachdem Gaarder außer Hörweite war.
"Lass dir nicht die Laune vermiesen."
"Hab ich nicht vor Pyll."
Bren verdrängte die Gedanken an den großgewachsenen Vorarbeiter, dessen Arme so dick wie seine Beine waren. Kaum war der letzte Scheffel geleert, hing Bren die Schürze an den Nagel und eilte ohne Umwege nach Hause. Im Gedanken ging er alle Möglichkeiten durch, wie er seinen Fund versetzen könnte. Ihm fielen weniger ein, als ihm lieb war.
Kaum war das Abendessen verschlungen, öffnete Bren einen der letzten Bierkrüge die er besaß und holte sein Kleinod aus der Schublade. Vorsichtig schloss er die linke Hand darum.
"Vielleicht sollte ich versuchen ihn selbst einzuschmelzen", sagte Bren zu sich selbst, während er einen Schluck Bier trank und seinen Kochkessel betrachtete. Eigentlich müsste er den Kessel ja nur stark genug erhitzen, dann würde der Schlüssel schmilzen.
Etwas ließ ihn die Stirn runzeln, sein Daumen rieb über etwas Unebenes auf der Innenseite des Griffs. Er hielt den Schlüssel nah vor seine Augen. Etwas war in die Reite eingraviert wurden. Kleine, filigrane Buchstaben.
"Was den, die Adresse?"
Bren kniff die Augen zusammen. Wie jeder in der Stadt war er zumindest in der Lage, die Straßennamen zu lesen.
"Am Wasserschloss 13", murmelte er leise, "ich glaub es nicht."
Verwundert trank er einen Schluck. Der Bezirk um das Wasserschloss war eine heruntergekommene Gegend, am Fuß der Ewigen Zitadelle, durch die das zerbrochene Aquädukt lief. Die Bewohner wurden gerne als das gehobene Gesindel bezeichnet. Er legte den Schlüssel auf den Tisch.
"Vielleicht gibt es einen Finderlohn?" Kaum ausgesprochen, verwarf er den Gedanken wieder. Die meisten dort waren sicher zu arm und jene die es sich leisten konnten, waren sicher keine gesetzestreuen Menschen. Dennoch, wer verlor schon gerne einen goldenen Schlüssel. Bren rieb sich nachdenklich das leicht bärtige Kinn. Genau, wer würde dort leben und sowas besitzen. Jemand der sich die Mühe machte, einen sehr weiten Weg zurückzulegen.
Aufgeregt ging Bren durch seine Behausung. Seine Gedanken fingen an sich zu überschlagen. Er war im Besitz eines teuren Schlüssels, der wohlmöglichweise, die Tür zu einer Wohnung, einem Haus, öffnen konnte, wo noch wertvollerer Kostbarkeiten gab.
Mit einem dumpfen Knall stellte er die Flasche auf den Tisch. Schnaubend scholl er sich selbst. Er mochte ein kleiner Gauner und Betrüger sein, aber sicher kein Einbrecher.
Während die Flasche an Inhalt verlor, schwollen Brens Ideen und Gedanken an. Vom Zurückbringen, Verkaufen oder vielleicht doch einem Einbruch, ging er alles durch. Und verwarf es. Nur ein Gedanken blieb vorerst. Er wollte sich die Adresse einmal ansehen.

Der folgende Arbeitstag zog sich dermaßen hin, als zermahle man die Zeit selbst auf den Mühlsteinen. Bren hatte sich gleich am Morgen einen Plan zurecht gelegt, wie er sofort nach der Arbeit zu der Adresse aufbrechen konnte. Die Nacht würde kurz werden.
"Hast du etwa wirklich ein Mädchen an der Hand?" Pylls Frage riss ihn aus seinen Gedanken.
"Was? Nein!"
"Sicher? Du bist noch weniger bei der Arbeit als sonst."
Pyll grinste ihn breit an.
"Hatte eine kurze Nacht. Schlecht geschlafen", entgegnete Bren.
"Hat Gaarder dich im Traum verfolgt?"
Bren fröstelte es bei dem Gedanken. „Zum Glück nicht."
Pylls Grinsen hielt an, aber Bren schüttelte nur den Kopf. Gaarder und er waren schon am ersten Tag aneinander geraten. Er wusste gar nicht mehr warum, aber die gegenseitige Abneigung hatte überdauert und war mit der Zeit prächtig gewachsen. Beide setzen ihre Arbeit schweigend fort.
Ein Pfiff unterbrach plötzlich die mahlende Monotonie.
"Es ist wieder so weit", rief einer der anderen. Jeder wusste was das hieß, schnell bildete sich eine Traube von dreckigen Gesellen an den Fenstern.
Aus der gegenüberliegenden Werkstatt schritt eine schlanke Frau heraus, die einen langen Bogen trug. Als sie stehen blieb, zog sie einige Male an der Sehne. Beäugte den Bogen dabei kritisch. Nach Beendigung der Inspektion nahm sie einen Pfeil aus ihrem Köcher, legte ihn an und schoss auf die Zielscheibe, die einige Meter entfernt auf dem Vorhof der Werkstatt stand.
"Oh Alma, genau Mitten in mein Herz", stöhnte Pyll theatralisch. Leises Lachen erfüllte das Mühlhaus.
Bren bekam von dem Nichts mit. Seine Aufmerksamkeit gehörte nur Bognermeisterin Almawyth Steinfeder. Die Frau mit den langen, rotblonden Haaren, durch die ihre spitzen Ohren hindurch stachen, war für ihn seit dem ersten Augenblick ein Traum gewesen.
Der Ablauf wiederholte sich noch zweimal, dann wurde es still. Alma hielt kurz inne, nickte und ging dann wieder hinein. Leises Raunen erklang.
"Wenn ihr so hart arbeiten würdet, wie Eure Schwänze es grade sind, würde es mir sogar eine Freude sein euch zu bezahlen", brummte Meister Garkus Stimme aus dem Hintergrund.
Hektisch machten sich die Gehilfen wieder an die Arbeit. Niemand sah den Meister an, der nur kopfschüttelnd davon ging. Gaarder tat es ihm gleich und trug schweigend einen weiteren Mehlsack davon.
Bren hielt seinen Scheffel geistesabwesend in der Hand. Almawyth war mit Abstand die schönste Frau, die er je gesehen hat. Jede ihrer Bewegungen war anmutig und stolz, ihre blauen Augen leuchteten heller als der Himmel.
"Bren, nicht träumen", ermahnte ihn Pyll erbarmungslos.
"Ich...", setzte Bren an.
"Vergiss es. Wir haben das jedes Mal."
"Aber?"
"Nein."
"Es ist nur, sie ist so...", Bren suchte vergeblich nach Worten.
"Ich weiß was du meinst, aber ich bleibe beim Nein. Manchen Menschen wurde einfach alles in die Wiege gelegt. Wir gehören definitv nicht dazu."
Resigniert sah Bren zu Boden.
"Abgesehen davon denke ich, dass sie uns alle verachtet."
"Wirklich?" Bren sah ihn erschrocken an.
"Du hast mitbekommen, was eben passiert ist, oder? Ich glaube, dass sie uns grundsätzlich nur ihre Kehrseite zeigt, soll verdeutlichen, was wir sie mal können."
Nickend setzte Bren seine Arbeit fort. Wobei seinen Gedanken sich weiter um sie drehten. Es war nicht nur ihre Erscheinung, die Bren bewunderte, sondern auch ihr Handwerk. Aus einem Stück Holz machte sie eine Waffe, die sowohl elegant als auch tödlich war. Und das mit großer Leidenschaft. Jedes Mal wenn sie einen ihrer Bögen prüfte, schoss sie dreimal damit. War sie zufrieden, nahm sie ihn wieder mit hinein. Entsprach er nicht ihren Vorstellungen, zerbrach sie ihn.
Das Aussehen ihrer Kunden sprach für den Erfolg. Gutgekleidete Menschen standen immer wieder mit ihrem Gefolge vor der Werkstatt. Ihre Geldbeuteln so dick gefüllt wie ihre Bäuche.
Sie fertigte nicht einfach etwas an, sie erschuf es. Während er nur dabei zusah, wie aus Korn Mehl wurde.

Kaum war der letzte Scheffel im Sack, verschwand Bren aus dem Mühlhaus. Auch wenn Alma ihn abgelenkt hatte, seine Gedanken waren schnell wieder bei seinem Vorhaben. Zumal er auch ein wenig stolz auf sich war. Der Schlüssel lag, in einem Stück Stoff eingewickelt, den ganzen Tag über in seiner Hosentasche. Nicht einmal ist er auf die Idee gekommen über ihn zu reden, oder sogar zu zeigen.
Zielstrebig besuchte er den Händler, bei dem er sich für den Abend Verpflegung besorgte. Etwas Dörrfleisch, ein halber Laib Brot und, besonders wichtig, zwei Schläuche mit Bier. Den ersten trank er sofort nach Verlassen des Ladens.
Bestärkt ging Bren schnellen Schrittes durch die Straßen und schenkte den anderen Menschen wenig Beachtung. Er wollte so weit wie möglich kommen, bevor es ganz dunkel war. Zwar war das Glück mit ihm, den der Himmel war beinah wolkenfrei und der Mond fast voll, dennoch würde es einige Ecken geben, die sehr dunkel waren. Aber seine Strähne hielt an. Niemand beachtete ihn, oder suchte Streit. Selbst die beiden Eingänge zu den tieferen Gewölben und den Katakomben waren ruhig. Außer ein paar Säufern und Schlägern hielt sich niemand an den höhlenartigen Zugängen auf, die in die unteren Ebenen der Stadt führten. Auch die Wachen an den Gasseneingängen waren mehr mit sich selbst beschäftigt.
Als er auf den Platz vor dem Aquädukt trat, atmete er erleichtert aus. Er war fast da. Das Mondlicht zeichnete scharfe Kontraste aus Hell und Dunkel auf dem Boden, da es durch die Bögen des Bauwerks fiel. Bren betrachtete das gut drei Stockwerke hohe und zwei Häuser breite Gebilde. In einer scheinbar endlosen Grade verlief es vom Fuß der ewigen Zitadelle, die einem Berg gleich vor ihm thronte, hinab in die Brache.
Ohne weitere Zeit zu vergeuden ging er zu einer der seitlichen Aufbauten, die hinauf führten. Oben angekommen, gönnte er sich einen Moment, um die Aussicht zu gennießen. Über das Geländer hinweg erstreckten sich vor ihm mehrere, in Licht getauchte, Bezirke mit ihren engen, erleuchteten Straßen, gekachelten Dächern und den schattigen Gassen. Alles wirkte auf einmal unbeengter, freier. Er konnte sogar die Hammerhallen erkennen. Bren glaubte sogar in der Ferne den weißen Obelisken zu sehen, der auf dem Platz der Erleuchtung stand. Durch die verschiedenen Höhenlagen einiger Bezirke, wirkte alles wie eine Hügellandschaft mit kleinen Tälern. Hügel die vor einem gewaltigen Berg kauerten. Die ewige Zitadelle war ein gebeugter, grobschlächtiger Riese, der im Herzen der Stadt ruhte und beharrlich seinen Schatten warf. Obwohl aus unzähligen Fenstern Licht drang und ihre Spitze von Feuern erhellt war, wirkte sie stets dunkel und bedrohlich. Ein mahnendes Bollwerk des herrschenden Adels.
Bren fand die Aussicht, ausgerechnet in ihre Richtung gehen zu müssen weniger angenehm, aber er setzte seinen Weg fort. Auf dem Weg lag überall Unrat, der sich in dem ausgetrockneten Kanal neben hölzernen Skeletten sammelte. Auch wenn es kein Wasser mehr führte, wurde es immer noch als Transportweg genutzt. Er selbst hatte hier schon einige Male Mehlsäcke geschleppt. Sein Rücken erinnerte sich daran. In einiger Entfernung konnte er schon den runden Aufbau des Wasserschlosses sehen. Die umliegenden Häuser sahen weder einladend, noch von wohlhabenden Menschen bewohnt aus. Er runzelte die Stirn.
Etwas neben ihm bewegte sich.
Erschrocken machte Bren einen Satz zur Seite, wobei er sich den Mund zuhielt, damit sein Schrei nicht über die halbe Stadt hallte.
"Was?!", keuchte er.
Vor ihm lag jemand auf dem Boden. Von einem dunklen, schmutzigen Mantel verborgen, lag eine Gestalt zwischen einigen ramponierten Kisten und zurückgelassenen, kaputten Habseligkeiten. Eine blasse, schlanke Hand streckte sich ihm entgegen.
"Verflucht, musst du einen so erschrecken?"
Er bekam keine Antwort. Die Hand griff weiter nach ihm, wobei sich die Gestalt etwas bewegte. Ein langer Haaransatz kam zum Vorschein und weiter unten ein Bein, dass in einem langen Lederstiefel steckte.
Bren rollte mit den Augen. Scheinbar eine Hure für besondere Geschmäcker, die selbst einen besonderen Geschmack für Rauschgifte zu besitzen schien. Er griff in seinen Beutel, bracht ein Stück Brot ab und warf es vor sie.
"Hier."
Die Hand griff weiter nach ihm. Das Brot blieb unbeachtet, während sie ein keuchendes, gieriges Stöhnen von sich gab. Wortlos setzte Bren seinen Weg fort. Schon oft genug war er Menschen begegnet, denen Bier und Wein zum Rausch nicht reichten. Zunderstein, schwarzer Lotus oder Hexenbräu, Dinge die Körper und Geist gleichermaßen zerfraßen, für ein paar Momente voller Glück.
Wenige Minuten später erreichte Bren das Wasserschloss. Ein großer, schlichter runder Turm ohne Dach, in den der Kanal mündete. Ein stählernes Gitter lag auf dem Abgrund, in den einst das Wasser stürzte. Vorsichtig ging er zum Geländer am Rand, um hinab zusehen. Die gesuchte Straße lag beinah direkt zu seinen Füßen. Er runzelte die Stirn. Es war nur eine kurze Querstraße, in der offensichtlich keine Wohnhäuser lagen, sondern nur zwei gegenüberliegende Reihen von Lagern. Verwundert ging er die Treppe hinab und sah sich um. Niemand war zu sehen. Zu dieser Zeit wohl auch kein Wunder, dachte Bren. Erneut sah er sich um, schlich dann, so gut wie er konnte, zu einem alten, verfallenen Holzstand am Fuße des Aquädukts. Behutsam legte er den Bierschlauch, sein Brot und alles andere ab, um es dort unter seinem Mantel zu verstecken. Sollte er fliehen müssen, wollte er so wenig Ballast mit sich tragen wie möglich.
Kaum lag der Mantel auf den Sachen, entschied Bren das er noch einen Schluck Bier brauchte. Dann ging er in die Straße.
Als er vor der gesuchten Adresse stand, überraschte deren Einfachheit ihn dann doch. Eine schmale, schmucklose Holztür in einem fensterlosen Erker. Bren holte den Schlüssel hervor, sah ihn ungläubig an und dann die Tür. Ihm fiel kein Reim darauf ein, wieso ein goldener Schlüssel ausgerechnet hier passte. Ein letztes Mal sah er sich um, steckte den Schlüssel ins Loch und drehte ihn ganz vorsichtig. Ein metallisches Klacken. Es öffnete sich. Behutsam zog er die Tür auf, wartete einen Augenblick und schlich hinein.
"Ehhh...", entglitt es Bren, als er die Tür zumachte.
War das Äußere schon überraschend anders als erwartet, war es das Innere erst recht. Ein kleiner Raum, der zu einer nach unten verlaufenden Wendeltreppe führte, die von schwachen Lampen erhellt wurde. Das war alles.
Für ein paar Sekunden stand er einfach nur schweigend da, dann blinzelte er seine Verwunderung weg. Die Treppe würde schon irgendwo hin führen.
Langsam schlich er sich die ersten Stufen hinab, schaute soweit es möglich war um die Ecke und ging dann weiter. Vielleicht war es ein Diebeslager mit einem Keller voll Beute, überlegte er. Schon öfters hatte er Geschichten von solchen Lagern gehört. Geheimen Verstecken, meist sogar unbewacht, da sich die Besitzer für Schlau und Gerissen hielten. Wenn dem so war, er könnte natürlich nicht alles stehlen. Wobei es ja kein Diebstahl war, gestohlene Sachen zu klauen. Und ein Beutel voller Goldmünzen fiele bestimmt nicht auf.
Bren blieb stehen. Obwohl er schon einige Schritte hinter sich gebracht hatte, war kein Ende zu sehen. Ging er so langsam? Nach kurzem Luft holen ging er schneller weiter. Er musste nur leise bleiben.
Vielleicht gab es ja doch die ein oder andere Wache im Keller. Die Aussicht auf große Beute ermutigte ihn. Ein versetzter Schlüssel, schön und gut, aber ein Beutel voller Goldstücke war besser. Lange Tavernennächte, gute Bordelle und ausreichend Bier und Essen.
Vielleicht könnte er auch etwas bei Alma kaufen. Im ersten Moment tadelte er sich selbst für diesen dummen Gedanken, aber in ihm lag etwas Wahres. So bestand keine Möglichkeit mit ihr zu reden, sie würde ihn nicht beachten. Aber wenn er einen Bogen kaufen würde. Es wäre eine Möglichkeit mit ihr ins Gespräch zu kommen und vielleicht die eine oder andere Gemeinsamkeit zu entdecken. Dinge, an die man anknüpfen könnte. Unter Umständen mehr.
"Idiot", sagte er leise zu sich selbst. Der Kauf eines Bogens machte ihn zu einem Käufer, sonst nichts und vor allem nicht mehr. Vor ihm lag die schweigende Treppe.
Er stutzte. Die Treppe war länger als gewohnt. Kopfschüttelnd und sich seiner dummen Gedanken schämend ging er weiter. Die Beute würde er anders umsetzen. Vorausgesetzt am Ende dieser endlosen Treppe wäre überhaupt etwas Wertvolles zu finden. Dieser Gedanke behagte Bren gar nicht. Was wenn die Treppe zu einem leeren Raum führte oder einfach nur zu einem Ausgang in die Katakomben. Und somit zu den Kanälen und Kanalmaiden.
"Dann wäre der Schlüssel niemals aus Gold", murmelte er. Dennoch bleib etwas Nagendes zurück, während er Drehung um Drehung seinen Weg hinab fortsetzte.
Vielleicht war es ein Zugang der Stadtwache, um schneller hinab zu kommen. Oder hinauf. Nicht das ihn am Ende eine gerüstete Armee erwartete.
Bren stöhnte genervt, verbannte alle Gedanken, außer denen von Gold und Bier.
Er leckte sich die trockenen Lippen. Hätte er den Schlauch nur mitgenommen.
Schritt um Schritt ging er weiter hinab, einer monotonen nicht enden wollenden Drehung folgend. Vorbei an den immer selben Kerzen, die schwaches Licht warfen.
"Verdammt nochmal wie weit geht das den noch hier", frustriert fluchend blieb er stehen. Seine Beine fühlten sich seltsam an, sein Kopf noch mehr. Ihm war leicht schwindelig. Mehrmals holte er tief Luft, dann ging er weiter.
Doch nach ein paar weiteren Drehungen blieb er wieder stehen. Es nahm kein Ende. Unwillkürlich ging er einen Schritt zurück, die Bewegung fühlte sich seltsam, beinah unnatürlich an. Aber vor allem fiel sie ihm schwer.
Ihm war gar nicht mehr bewusst, wie lang er nun schon hinab ging.
"Nein, dass ziehst du durch!"
Mit neuer Entschlossenheit ging er weiter. Einer Entschlossenheit, die er mit jeder Drehung bestärken musste. Stufe folgte um Stufe.
"Verdammt, das kann doch nicht wahr sein. Ich geh gleich zurück", brachte sein trockener Mund keuchend hervor. Zurückgehen. Die Treppe, die ganzen Stufen wieder hinauf zu steigen. In seinem Magen bildete sich ein kalter Klumpen. Der Gedanke ließ seine Beine wanken.
Er musste weitergehen.
Mit jedem Schritt fiel es ihm schwerer, seine Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren. Die mögliche Beute, Alma, Wein, Weib und Gesang. Alles wurde dem untergeordnet.
Plötzlich wackelten seine Beine, er verlor den Halt und streckte die Arme panisch aus, um sich an den Wänden abzustützen. Sein Oberkörper schwang hin und her, während die Beine auf dem Boden halt suchten. Als er stand, dauerte es einige Augenblicke bis er verstand, dass er auf ebenem Boden stand. Vor ihm eine schlichte, mit eisen beschlagene Tür.
Bren brauchte einen Moment um sich zu sammeln. Lächelnd sah er die Tür an und ohne einen weiteren Gedanken auf die Sicherheit zu verschwenden, griff er nach dem Klinke. Sie war nicht abgeschlossen. Sein Zeitgefühl war völlig abhanden gekommen, der Mund ausgetrocknet vor Durst und die Beine schmerzten, dennoch durchdrang ihn ein Glücksgefühl, endlich angekommen zu sein.
Hinter der Tür lag ein dunkler Raum, der nur spärlich von ein paar verstreuten Kerzen erhellt wurde. Irgendetwas refelktierte das Licht in der Luft, in Form von schimmernden Fäden. Es reichte grade aus, das man die Silouette eines Menschen erkennen konnte.
"Ah, tritt ein", sagte eine weibliche, ruhige und sanfte Stimme. Sie war keinesfalls überrascht.
Bren kam der Aufforderung nach, versuchte etwas zu sagen, doch sein Hals war viel zu trocken. Er fragte sich selbst, wie lange er die Treppen hinabgegangen sein musste, um so erschöpft zu sein.
Die Frau kam näher. In der diffusen Dunkelheit war sie nur schwer zu erkennen. Schlank, scheinbar langes Haar. Etwas an ihr gefiel Bren instiktiv nicht.
"Ich habe schon fast angefangen zu hungern", sagte sie amüsiert, während sie nahe genug kam, ihre Arme um Bren zu legen. Sie war größer als er.
Mit weit aufgerissenen Augen sah er ihren nackten Oberkörper an, dessen helle Haut das spärliche Licht wiederspiegelte. Jetzt wusste er, was ihm an ihr nicht gefiel. Sein Herz begann zu rasen.
"Hast du da draußen jemanden hungern gesehen?" Die Frage klang ehrlich interessiert.
Bren keuchte, sein Atem brannte in seinem Hals, aus dem sein Herz zu springen versuchte. Verzweifelt sah er hin und her, um der Umarmung zu entkommen. Ihm fiel nichts ein.
"Oh, verzeih, ich verstehe. Warte, ich schließe die Tür", befremdliches Mitgefühl lag in ihrer Stimme. In ihren nachtschwarzen Augen vermochte Bren nichts vom den zu sehen.
Sie streckte eines ihrer Bein aus, um die Tür zu schließen.
"Das wird es für dich einfacher machen zu sterben."
Die anderen sieben umschlossen Bren.
Draußen, vor der Tür, begann eine Spinne damit einen goldenen Schlüssel, eingesponnen in einem Kokon, die Treppe hinaufzuziehen.

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